Niemand ist entbehrlich …

1 Mos (Gen) 22,1–14,  Schwerhörigengottesdienst in der Klosterkirche Reichenbach bei Kassel, Passionssonntag 2017

By rev. Eyolf Berg, priest of the Nordic Catholic Church, secretary of IVSS Churchear
(There is only the German version of this article)

Beim ersten Blick ist es ein grausamer Text. Es schreit in uns ein Protest wenn wir ihn lesen. Es kann nicht wahr sein, dass Gott, dass der himmlischer Vater Jesu Christi – und unserer eigener – solch einen grausamen Anspruch machen kann! Und ja, wenn unser Ausgangspunkt, wenn wir diesen Text lesen, jene Haltung ist, an die wir uns nach einem mehr als tausendjährigen Einfluss von christlichem Glauben und Gedanken gekämpft haben, ist der Text grausam, besonders wenn wir ihn auf nur einer Ebene lesen.

Es liegen 3–4 tausend Jahre zwischen diesen Text und uns, und normaler weise lesen wir ihn mit Paulus als Interpretationsschlüssel. Wir müssen aber weiter zurück gehen, in die Zeit vor Paulus. Wir müssen versuchen den Text zu lesen aus der Zeit, von der er erzählt. Menschenopfer war damals kein unbekanntes Phänomen. Zur Zeit Abrahams ließ sich niemand über göttlichem Blutdurst überraschen. Das wird klar und deutlich erzählt sowohl in der Bibel als in anderen Quellen. Es ist wichtig, dies zu wissen, um Abraham überhaupt verstehen zu können, verstehen wie ein Vater ohne weitere hingehen kann, seinen Sohn zu opfern. Und was das anbelangt: Es liegt nicht mehr als gut 1000 Jahre zurück, seit Menschenopfer ein bekanntes Phänomen auch in Norwegen waren. Ich stelle mir vor dass die Lage auch nicht sehr unterschiedlich im vorchristlichen Deutschland war.

Wir müssen Zweitens erinnern dass die Bibeltexte sich immer auf mehreren Ebenen bewegen. Eine Ebene in diesem Text ist einfach die historische. Wenn wir den Text nur auf der Ebene lesen, können wir nur feststellen dass es sich um einen grausamen Text aus einer barbarischen Vergangenheit handelt. Dann hat der Text auch uns in unserer Gegenwart nichts zu sagen.

Der Text hat auch eine prophetische Ebene – oder mehrere prophetische Ebenen – mit Abraham als Vorbild für die Gläubige, und das Geschehen selbst als eine Vorhersage dessen, was später mit Jesus selbst passieren würde. Auf dieser Ebene hat der Text uns natürlich immer noch etwas zu sagen.

Ich sehe aber noch eine Ebene in diesem Text, eine ethische Ebene, oder eine Menschenrechtsebene. Und auf dieser Ebene zittert der Text von einem Inhalt der auch in unserer Zeit und in unserem Zusammenhang hochaktuell ist.

Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Leute einander in „uns“ und „sie“ eingeteilt, die Unentbehrlichen und die Entbehrlichen. Man hat auf den Entbehrlichen heruntergesehen. Zu Zeiten sind sie so zu sagen wie Verbrauchsgut angesehen gewesen. Sie konnten geopfert werden, so dass die Unentbehrlichen, die Wertvollen bei den Obrigkeiten – oder bei den Göttern – etwas erreichen konnten. Zu Abrahams Zeiten waren sowohl Kinder wie Sklaven entbehrliche, die letzten besonders wenn sie zu anderen Völkern gehörten. Von anderen Kulturen wissen wir dass Frauen, Kranke und Behinderte, sowohl wie besondere Völker und Gruppen entbehrlich gewesen sind, und damit auch als „Opfertiere“ benutzt werden konnten.

Ich bezweifle kein Augenblick dass Abraham Isak liebte. Isak war der langersehnte Sohn, durch den die Familie weiterleben sollte. Soweit ich verstehen kann, auf Hintergrund meiner Zeit, meiner Kultur, sollte Isak äußerst unentbehrlich gewesen sein. Trotzdem, wenn Abraham einen göttlichen Befehl, diesen Sohn zu opfern bekommt, geht er gehorsam weg. Er ist ein Kind seiner Zeit, auch wenn er zu diesem Äußersten getrieben wird, seinen einzigen Sohn umzubringen, um göttlichen Gunst zu gewinnen. Der anscheinend Unentbehrliche war nichtsdestotrotz entbehrlich!

Ich möchte nicht raten, was Isak empfunden oder erlebt habe könte, wenn er gebunden und auf dem Opferaltar gelegt wurde, und der Vater über ihm steht, mit dem Opfermesser gehoben ihn umzubringen. Im letzten Augenblick greift aber Gott ein: Halt! Dies darf nicht geschehen! Es gibt keinen entbehrlichen Menschen, weder Kind oder Erwachsenen. Jeder Mensch ist zu Gottes Bilde geschaffen und hat deswegen in Gottes Augen den gleichen Wert. Demnach hat niemand das Recht einen anderen Mensch als Opfer zu geben. Im Gegenteil: Jeder Mensch, ungeachtet Alter, Geschlecht, Nationalität, Kultur, Sprache oder Grad von Funktionsfähigkeit. hat das gleiche Recht von uns angesehen zu werden, so wie Gott selbst uns an sieht. Denn Gott sieht uns nicht in Alterskategorien an. Er sieht uns nicht als Kind oder Erwachsen. Er sieht uns nicht als Norweger, Deutscher, Pole, Schwede, Rumäne – oder Syrier usw. Er sieht uns nicht als Mann oder Frau, als gesund oder behindert. In jedem Mensch sieht er nur sein eigenes Abbild, und mit allen unseren Unterschieden stellt jeder einzelne Mensch eine Facette des Gesamtbildes Gottes dar, in dem wir alle geschaffen sind. Wenn ein einziger von uns fehlt, fehlt uns allen die Möglichkeit mit einer Seite dessen, der uns geschöpft hat, bekannt zu werden. Ja, wenn wir sagen dass ein Mensch entbehrlich ist, dann sagen wir in der Tat dass eine Seite Gottes entbehrlich ist, dass es gibt Seiten Gottes, auf die wir gerne verzichten möchten!

Es gibt keinen entbehrlichen Menschen. Je und eins sind unentbehrlich, für Gott und für einander. Das ist zu guter Letzt, was der allmächtige Gott uns durch diesen alten, und beim ersten Blick grausamen, Bericht von Abraham und Isak sagt. Dabei wird der Text auch in 2017 brandaktuell, in unseren Begegnungen mit Flüchtlingskrisen, Krieg und Chaos, für Hörbehinderte, die für ihren selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft kämpfen müssen, und für unzählige andere „entbehrliche”. Und niemand hat mich mehr darüber gelehrt, wie Gott mit allen Geschöpfen kommuniziert, als eben jene Hörbehinderte – lange bevor ich selbst einer von ihnen wurde.

Im Mittelosten zu biblischen Zeiten wurden hör- und sehbehinderte Leute als von Gott besonders verurteilt angesehen. Sie hatten zum Tempel und zu den Synagogen kein Zutritt. Jesus lehnt jedes solches Denken völlig ab, und macht es ganz klar dass auch hör- und sehbehinderte Leute zu Gottes Ehre geschaffen sind. Sie – wir – sind unentbehrlich! Sind wir zu unserer Zeiten weiter gekommen? Ich frage mich manchmal, wenn ich erlebe dass schwerhörige von Gesprächen ausgeschlossen werden („Nein, es war nichts wichtiges – denk nicht mehr darüber”), Wenn Kirchen und Versammlungslokalen ohne Induktionsschleifen und anderen nötigen Hilfsmittel gebaut werden („Es wird so teuer, und es ist trotzdem nicht sicher, dass sie verstehen können, was gesagt wird”), wenn ignoriert wird, dass Hörbehinderte tatsächlich die am schnellsten wachsende Behindertengruppe in der modernen Gesellschaft ist. Alle, die so denken, senden ein starkes Signal, dass Hörbehinderte immer noch entbehrliche sind. Gott denkt da anders! Für ihn ist jeder Mensch ein unentbehrlicher Teil des Gottesbildes, in dem wir alle geschaffen sind. Kind oder Erwachsen, Mann oder Frau, Schwerhörig oder Guthörend – ungeachtet: Jeder Mensch ist unentbehrlich! – ohne Ausnahmen, genauso wie Gott auch keine Ausnahmen machte, als er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. – Und plötzlich bewegen wir uns auch auf der prophetische Ebene des Textes. Natürlich, den die verschiedene Ebene des Textes sind so eng mit einander verbunden, dass wir sie alle im Blick haben müssen, um den Text wirklich verstehen zu können.

Tue dem Knaben nichts … Sagte denn jemand, dass dieser alte Text nicht auch in unserer Zeit aktuell wäre?